Reinhold M. Gličre

* 11. Januar 1875 in Kiew
+ 23. Juni 1956 in Moskau

 

Komponist und Musiklehrer

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Reinhold M. Gličre, der zweitgeborene Sohn des Ehepaares Ernst Moritz Glier / Josephine Kortschak, wurde 1875 in Kiew geboren. Sein Taufname war Reinhold Ernst Glier.

 In einigen Musiklexikas, Büchern und auf den Beschreibungen zu CD's und Schallplatten wird er als "Sohn belgischer Eltern jüdischer Abstammung"  bezeichnet. Dies ist falsch! Wie es zu dieser Fehlinformation kommen konnte, läßt sich nicht mehr klären. Reinhold Gličre wurde am 30. Dezember 1874 (nach altem Kalender) geboren und am 19 Januar 1875 in der Evangelisch Lutherischen Kirche zu Kiew durch den Pastor O. Koenigsfeld getauft und am 25. März 1890 durch Pastor Friedrich Wasem konfirmiert. Eine Kopie der zweisprachigen Taufurkunde findet sich in dem Buch von Gulinskaja [1]. Die französische Schreibweise des Namens ist ab etwa 1900 verbürgt. Sie hat aber mit der Abstammung nichts zu tun. Sein Vater stammte aus Sachsen, seine Mutter aus Polen. Stanley D. Krebs [2] , der ebenfalls von der belgisch-jüdischen Abstammung ausgeht, glaubt, dass der Wunsch der Eltern, Reinhold solle Doktor oder Ingenieur werden, wegen Rassen- bzw. Klassenunterschieden nicht zu verwirklichen war. Vielleicht hat die sächsische Abstammung ebensolche Probleme gemacht, vielleicht war aber auch nur der Wunsch, Musiker zu werden stärker. Immerhin hat Reinhold seine ersten Kompositionsversuche schon in jugendlichem Alter von 15 Jahren gemacht.

Reinhold Gličre begann in  frühem Alter bei Adolf Weinberg (1844 - 1921) Geige zu studieren. Da zeigte sich schon das musikalische Talent. Im  Alter von zehn Jahren trat er in das Gymnasium und etwas später in die Musikschule in Kiew ein. Gymnasium und Musikschule absolvierte er erfolgreich und nahm Kurse in Theorie und Komposition bei E.A. Ryb, einem Studenten von Rimsky-Korsakov. Sein Hauptfach war Geige und zwar mit so gutem Erfolg, dass sich der Besuch des Konservatoriums in Moskau schon abzeichnete.

Im Jahre 1894 übersiedelte Reinhold Gličre nach Moskau und trat in das Moskauer Konservatorium ein. Er studierte Geige bei Professor Hrimalý und Komposition bei A.S.Arenskij, G.E. Konjus, S.I. Taneev und Ippolitov-Ivanov. Wesentlichen Einfluss hatte dabei  Sergei Taneev. 

Gličre schloß sein Studium 1900 mit der Goldmedaille in Komposition ab, der höchsten Auszeichnung des Konservatoriums. Bis zu dieser Zeit hatte er schon eine Oper (Erde und Himmel), sein erstes Quartett, ein Oktett und seine erste Symphonie in Es-Dur (op. 8) geschrieben.

Sergei Taneew mit Reinhold Glier

Taneev war es, der seinem "Studenten" zwei Schüler vermittelte, Sergei Prokof'ev und Nikolai Mjaskovskij. Beide konnten nicht in das Konservatorium aufgenommen werden, Prokof'ev wegen seiner Jugend und Mjaskovskij wegen seiner Armeeverpflichtungen.

Am 21. April 1904 heiratete Reinhold Gličre seine Frau Maria Renkwist, mit der er fünf Kinder hatte, 1905 die Zwillinge Lia und Nina, 1907 den Sohn Robert und im Februar 1913 die Zwillinge Leonid und Walja. 1905 ging Gličre für weitere Studien nach Berlin. Er war gut beraten und wurde in Berlin  gut empfangen; seine zweite Symphonie in c-moll (op. 25) wurde am 23. Januar 1908 dort uraufgeführt (Kritik). Im Jahre 1907 begann Gličre intensive Studien im Dirigieren unter Oskar Fried.
 

Reinhold Glier 1907 in Berlin

Gličre-Abend am 20. Februar 1907 in Berlin

Nach seiner Rückkehr nach Rußland begann er kurzfristig eine Dirigenten-Karriere. 1913 wurde die Kiewer Musikschule von der Kaiserlich-Russischen-Musikgesellschaft (IRMS) zu einem Konservatorium aufgewertet und Gličre wurde Mitglied des Lehrkörpers. 1914 wurde Gličre Direktor des Konservatoriums und blieb auf diesem Posten bis 1920, als er nach Moskau ging. Er war daher nicht nur derjenige der das neue Konservatorium errichtete, sondern auch derjenige, der den Wechsel von der IRMS zu einer sowjetischen Institution durchzuführen hatte. Es wird behauptet, dass Gličre einer der ersten großen Komponisten war, der auf den Aufruf der Sowjetmachthaber antwortete und seinen Standpunkt beim Aufbau von sowjetisch- musikalischer Kultur einnahm [2]. Tatsächlich war Gličre apolitisch und in Sachen Musik konservativ. Er hatte nur einen geringen Anteil an den verschiedenen musik-politischen Gruppen der frühen Sowjetunion. Nachdem sie gescheitert waren, hat man aus ihm, in der Rückschau, einen Helden von heute gemacht. Jedoch zu jener Zeit wurde er wegen seines Mangels an Interesse und Mangels an politischer Richtung kritisiert.

1920 wurde Gličre Professor für Komposition am Moskauer Konservatorium und blieb auf diesem Posten bis zum Ausbruch des zweiten Weltkriegs. Seine kreative Aufmerksamkeit wandte sich um 1917 der Bühne zu; bis dahin hatte er nur eine Oper (Erde und Himmel, 1900) und eine Ballettpantomime (Crisis, 1912) "auf der Habenseite". Die drei während der Zwanzigerjahre geschriebenen Ballette waren: Komedianty, 1922, welches aber erst 1930 nach weitreichender Revision aufgeführt wurde, Kleopatra, 1925, und Der rote Mohn, 1926 / 1927. Das letztere wurde als Beginn der sowjetischen Oper gefeiert. Seine letzte Sinfonie, die Sinfonie "Ilya Muromets" (Sinfonie Nr. 3 op. 42), beendete Gličre 1911. Sie basiert auf der Legende von Ilya Muromets, einem legendären russischen Helden aus einem alten russischen Epos. Die Geschichte findet sich in vielen russischen Gedichten und man könnte sie mit der deutschen Nibelungensage vergleichen. Die Sinfonie "Ilya Muromets" gehört zu bekannteren Werken von Reinhold Gličre.

1923 wurde Gličre nach Aserbejdschan eingeladen, um bei der "sowjetischen" Entwicklung dieses Landes "zu helfen".  Das Ergebnis dieser Reise war die Oper "Shakh-Senem", in der aserbejdschanische Volksmusik verarbeitet wurde.  Die Erstaufführung fand 1927 in Baku statt, allerdings in russischer Sprache. Eine zweite Version in der Sprache Aserbejdschans wurde1934 ebenfalls in Baku aufgeführt. Gličre blieb von 1923 bis 1924  in Aserbejdschan und kehrte 1929 zu einem ausgedehnten Aufenthalt zurück. 

1932 wurden alle unabhängigen Kulturorganisationen durch Partei und Staat aufgelöst. Gličre, wie auch andere der älteren geachteten Meister, z.B. Ippolitov-Ivanov und Mjaskovskij, äusserten sich zustimmend. Im Sommer 1932 gründeten die Moskauer Komponisten den Verband Sowjetischer Komponisten, in dessen Vorstand auch Gličre eintrat. 

In dieser Zeit der radikalen Umwälzungen in der Musik in der Sowjetunion erreichte Reinhold Gličre die Nachricht, dass sein Bruder Moritz in Dresden gestorben war. Da Moritz keine Erben hatte, fiel das Erbe (unter anderem ein Grundstück) an die noch lebende Mutter Josefine und den Bruder Karl, der seit 1920 in Deutschland lebte. Es war verständlich, dass es für einen sowjetischen Komponisten zu dieser Zeit nicht gerade eine gute Visitenkarte war, Grundstücksbesitzer in Deutschland zu sein. In einem Brief an seinen Bruder Karl lehnte er das Erbe ab, was aber dem deutschen Grundbuchbeamten nicht ausreichte, die notwendigen Eintragungen vorzunehmen. Es unterblieb die Umschreibung im Grundbuch und nach der politischen Wende 1989 in Deutschland, stellten die Verwandten fest, dass die DDR-Regierung das Grundstück wegen "nicht ermittelten Eigentümers" verkauft hatte.

Reinhold Glier mit seinen Enkelinnen

Reinhold Gličre mit seinen Enkelinnen Lolita und Senta in Kislovodsk, 1937

Reinhold Gličre wandte sich in den Dreissiger-Jahren von Oper und Ballett ab, aber nicht von der Bühne und der Leinwand. Seine Aktivitäten während dieser Zeit galt den dramatischen Theatern, wo er Begleit-Musik zu sieben Spielen und zu Filmen schrieb. Seine Aufmerksamkeit wandte sich auch mehr "sozialistischer" Musik zu. Während dieser Zeit schrieb er die "Festouvertüre" zum Gedenken an den zwanzigsten Jahrestag der Revolution im Jahr 1937, das "Fergana Fest", welches der Konstruktion und dem Fortschritt von Stalins Fergana Kanal gewidmet ist (unter Verwendung von usbekischen und tadzhikischen Themen), die Ouvertüre "Die Freundschaft der Völker", die den fünften Jahrestag der Stalin'schen Verfassung feiert und den "Heroischen Marsch" der Buriatisch-Mongolischen Autonomen Republik.

Mit Beginn des 2. Weltkrieges wurde Gličres Lehrtätigkeit unterbrochen und auch nie fortgesetzt. Gličre war einer der am meisten geehrten sowjetischen Komponisten und dies in einer Zeit, in der andere Komponisten, wie z.B. Schostakowitsch und Prokof'ev, unter staatlichen Repressalien zu leiden hatten. Gličre wurde 1934 "Künstler des Volkes" der Aserbejdschanischen SSR, 1936 der Russischen SFSR , 1937 der Uzbekischen SSR und schließlich 1938 der Sowjetunion. Er wurde 1937 mit dem "Roten Banner der Arbeit" und 1938 mit dem "Ehrenorden" ausgezeichnet. Später erhielt er drei "Lenin-Orden" (1945, 1950, 1955; dies waren normalerweise Geburtstagsehrungen) und "Stalin-Preise" 1. Klasse (1946 für das "Konzert für Singstimme und Orchester", 1948 für das "4. Streichquartett" und 1950 für das Ballett "Der Bronzereiter").

Während der Zeit 1939 bis 1951 schrieb Gličre vier Konzerte, die eine beträchtliche Wirkung auf die sowjetische Musik gehabt haben. Diese waren für Harfe (Opus 74, 1939), für Sopranstimme (Opus 82, 1942/43), für Cello (Opus 87, 1947) und für Waldhorn (Opus 91, 1951). Das Cellokonzert ist übrigens das erste sowjetische, bzw. russische Cellokonzert. Es ist Mstislav Rostropovich gewidmet, der in seinem "Durst" für neue Cellomusik  die Komponisten um Kompositionen für Cello anging. Gličre war einer von ihnen, der durch die Nachfrage von Rostropovich zu der Fülle von Celloliteratur dieser Zeit beitrug. Das Harfenkonzert war sehr "ökonomisch" in seiner Instrumentenwahl. Die Harfe wird von einem Orchester in Kammermusikgröße unterstützt.  Das Konzert für Singstimme und Orchester ist sehr bekannt, wird aufgeführt und ist, was die Wahl des "Soloinstrumentes" betrifft, einzigartig.

In den Vierziger Jahren kehrte Reinhold Gličre zu Oper und Ballett zurück. Als Mitautor mit Talib Sadykov, Gličres Student am Usbekischen Konservatorium, schrieb er zwei Opern: "Leili und Medzhnun" und eine russifizierte Version von "Giul'sara" für die Opernbühne. 1942/43 schrieb er die Oper "Rachel", basierend auf de Maupassant's "Mademoiselle Fifi". Er kehrte zum Ballettgenre mit "Der Bronzereiter"  (1948/49) und "Taras Bul'ba" (1951/52) zurück. Sein letztes Ballett war "Tochter von Kastiliien" (1955) nach Lope de Vega.  Das Ballett "Der Bronzereiter" wurde häufig aufgeführt. Das Libretto des Stückes basiert auf Puschkins gleichnamigem Gedicht und beinhaltet auch Episoden zweier anderer Gedichte Puschkins (Das kleine Haus in Kolomna und Der Mohr von Peter dem Grossen).

Reinhold Gličre wurde in der 1948-Verurteilung von prominenten Komponisten kaum erwähnt. Seine Gesundheit war nicht gut in den letzten wenigen Jahren, und seine Lehrtätigkeit war seit langem beendet. Gleichwohl erschien er gelegentlich in einer Meisterklasse im Konservatorium. Obwohl er bis zum Ende seines Lebens weiter arbeitete, war sein Output in den letzten Lebensjahren für seine Verhältnisse relativ gering.
 
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In Ivanowo
Grabstein auf dem Nowodewitsch Friedhof.
Grabmal auf dem Nowodewitsch-Friedhof

Von 1948 an verbrachte viel Zeit im Erholungsort der "Moskauer Vereinigung sowjetischen Komponisten" in Ivanowo. Dort versammelte sich gern die "ältere" Generation. Er sah viel von seinen zwei ersten Studenten, Mjaskovskij und Prokof'ev bevor sie 1950 bzw.1953 starben. Er starb am 23. Juni 1956 in Moskau und ist auf dem Moskauer Nowodewitsch Friedhof beerdigt.



Literatur
[1] S. K. Gulinskaja, Reinhold Morizewitch Glier, Moskau "Musika" 1986 (russisch)
[2] Stanley D. Krebs, Soviet Composers and the Development of Soviet Music, London 1970 (englisch)
[3] F.K.Prieberg, Musik in der Sowjetunion, Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1965
[4] Boris Schwarz, Musik und Musikleben in der Sowjetunion von 1917 bis zur Gegenwart, Heinrichshofen's Verlag, 1982
[5] S. Bugoslawski, R.M. Gličre, Musik-Sektion, Staatsverlag Moskau, 1927
[6] Natal'ja Petrowa, Reinhold Morizewitsch Glier 1875-1956, Leningrad 1962 (russisch)
[7] Igor Belza, R.M. Glier, Sovjetskij kompositor, Moskau 1962 (russisch)
[8] Boris S. Jagolim, R.M. Glier, Ein Werkverzeichnis (Notograficeskij spravocnik), Moskau 1964 (russisch)

last update: 30. November 2002